Der 80. Geburtstag einer Kollegin, die mich – und viele andere auch – mit ihrem Denken und Sprechen, mit ihrem Musizieren und Experimentieren in Bann zieht sowie mit ihrem unabhängigen kritischen Reflektieren und ihren provokanten Visionen immer wieder aufs Neue anspricht und bewegt. Für sie gilt der Satz: Sie steckt an mit Leben, mit Lebendig-Sein, mit tätigem Leben verhalten und unaufgeregt.
Was für ein unvergleichliches Ereignis und eine Begegnung der besonderen Art: Der 80. Geburtstag einer Kollegin, die mich – und viele andere auch – mit ihrem Denken und Sprechen, mit ihrem Musizieren und Experimentieren in Bann zieht sowie mit ihrem unabhängigen kritischen Reflektieren und ihren provokanten Visionen immer wieder aufs Neue anspricht und bewegt. Für sie gilt der Satz: Sie steckt an mit Leben, mit Lebendig-Sein, mit tätigem Leben verhalten und unaufgeregt.
Mein Nachdenken über Christina Thürmer-Rohr versuche ich in eine imaginierte Dialogform mit ihr zu bringen: ein reizvolles, riskantes und leicht surreales Unterfangen – es würde ja in der Wirklichkeit nie so stattfinden, weil ich ihr unerwartetes und kreatives Neu-Durchdenken und reflektierendes « Vagabundieren » nicht einfach erfinden kann. Und dennoch wage ich ein solches Herangehen; Christina Thürmer-Rohr hat einmal gesagt, es brauche Distanz, um mit anderen « gut zu kommunizieren ».
Das Filmporträt anfangen, mit dem der Regisseur Gerd Conradt zeigen möchte, « wie Denken aussieht », wie er sagt, verführt geradezu zu einer solchen gedachten Begegnung. Dieses visualisierte Denken macht Lust auf Lernen, auf neue Anstöße, auf Verbindungen zum eigenen Gedachten und stellt dieses schonungslos infrage, befördert und ermutigt gleichsam Weiterdenken und Besinnen. Diese Perspektiven werden auch in Thürmer-Rohrs Schriften entfaltet. Von ihr lernen, heißt leidenschaftlich denken und sich einsetzen – die Abwandlung dieses viel zitierten Satzes aus den Beständen des realen Sozialismus wird sie mir als ehemaliger Kollegin sicher nachsehen. Umso mehr, als wir beide uns mit Transformationsprozessen befasst und ihrer Bedeutung für das Geschlechterverhältnis in West-und Ost-Deutschland nachgespürt haben.
Ich knüpfe an die aktuelle Programmreihe « Grenzen in einer entgrenzten Welt – Protokoll von Widersprüchen » an, die Christina Thürmer-Rohr im Forum Akazie 3 zusammen mit Laura Gallati politisch, musikalisch sowie erkenntnistheoretisch und praktisch entwickelt und veranschaulicht hat. Ihre Konzeptionen und Argumentationen sind gezeichnet von einem tastenden, nie fertigen, sich auflehnenden, widerständigen, provokanten und verstehenden Denken zwischen Grenzen und Ent-Grenzung. Ihre Denkweise begegnet hier Hannah Arendt, die uns wissen lässt: « Das Verstehen nämlich ist – im Unterschied zur fehlerhaften Information und dem wissenschaftlichen Wissen – ein komplizierter Prozess, der niemals zu eindeutigen Ergebnissen führt. Es ist eine nicht endende Tätigkeit, durch die wir Wirklichkeit, im ständigen Abwandeln und Verändern, begreifen und uns mit ihr versöhnen, das heißt, durch die wir versuchen, in der Welt zu Hause zu sein » (2000).
Dass Verortung und Entortung diesen Versuch bezeichnen, in der Welt zu sein, dass wir ohne Zu-Hause nicht ankommen können, nirgendwo, dies habe ich an jenem « Akazienabend » – es war zu Beginn des Jahres 2016 – intensiv wahrgenommen und verstanden. Dabei aber schien und scheint mir das Unbehauste im subjektiven Leben und in der gesellschaftlichen Realität unter den gegenwärtigen politischen und sozialen Bedingungen von Krieg, Terror und Flucht zwangsläufig eingeschrieben zu sein ins « beschädigte Leben »; es ist seine Signatur. Und diese verstehe ich als strukturelle Folgeerscheinung einer Rationalität patriarchaler Herrschaft und Gewalt – dem würde Christina Thürmer-Rohr sicher zustimmen in dieser allgemeinen Form. Eingedenk der Bekräftigung durch Irmtraud Morgner in ihrem Buch Amanda. Ein Hexenroman (1983): « Die Frauen leben nicht nur im Patriarchat, es lebt auch in ihnen. »
Gilt Thürmer-Rohrs Interesse diesem Zugang auch dann, wenn ich die global herrschenden Rationalitäts-Strukturen und -Mechanismen als funktionale Rationalisierung im Sinne der « Dialektik der Aufklärung » verstehe? Hier ist die fundamentale Verdinglichung und Instrumentalisierung von Vernunft letztgültig zum Konstitutionsprinzip bestehender gesellschaftlicher Verhältnisse erhoben worden. Mir scheint indessen der geschichtliche Prozess des Zustandekommens der Zerstörung durch Gewalt, der « Selbstzerstörung der Aufklärung » (Horkheimer und Adorno), wichtig für ein Verständnis dieser Entwicklung zu sein, bis hin zur gesellschaftlichen und individuellen Unbehaustheit – unbenommen der Gegenkräfte und Wirkungsvielfalt von Frauenbewegung und zivilgesellschaftlichen Initiativen und Organisationen.
Die Auseinandersetzung mit Positionen der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule war für mich hilfreich, um Kategorien zu gewinnen zur kritischen Wahrnehmung der Geschlechterverhältnisse und ihrer Veränderbarkeit. Es waren nicht nur die subjektiven, relativ privilegierten Erfahrungen, obgleich diese höchst ambivalent waren: Unmittelbare individuelle und strukturelle Diskriminierungserfahrungen und sexistische Gewalt auch an der Universität gehörten seinerzeit voll und ganz zur sozialen Normalität der Generation der heute plus/minus 80-Jährigen. Sexismus damals führte noch vor dem Protest zunächst zum grüblerischen Selbstzweifel der Verletzten (« Was habe ich falsch gemacht, dass es so weit kommen konnte? »). Der Übergang zur Mittäterschaft von Frauen, die freilich anders gedacht ist, ist hierbei sicher fließend, aber keineswegs zwingend. Dass Diskriminierungs- und Gewalterfahrungen heute bei Frauen nicht mehr uneingeschränkt zur Zuweisung von Selbstschuld führen, ist ein Erfolg der Theorie und Praxis der Geschlechterforschung.
Noch einmal kurz zurück: Verstörend war für mich, dass die in der Dialektik der Aufklärung enthaltene fundamentale Rationalitätskritik – mit einigen durchaus patriarchatskritischen Akzenten versehen – selbst rigoroser patriarchaler Zweckhaftigkeit und Verdinglichung verhaftet bleibt. Diese Einsicht ist heute aufgrund patriarchatskritischer Arbeiten, auch an der Technischen Universität Berlin erstellt, schon zum Allgemeingut geworden. Doch dafür brauchte es einige Lern-Umwege bis hin zu feministischen Erkenntnissen. Hier waren Thürmer-Rohrs Arbeiten für mich von unschätzbarem Wert!
Ein lohnender (Um)-Weg, den sie auch kennt, führt über patriarchale Denkmuster der « Klassiker » bis hin zu Habermas’ kommunikativer Rationalität und zu dem von ihm begründeten zentralen Postulat der Moderne: die Vernunft eines verständnisorientierten Handelns. Seine Vision einer « kommunikativen Vergesellschaftung » lässt Hoffnung zu für die Wirkmächtigkeit von Initiativen und von Partizipation. Hingegen irritiert die Einschätzung der gesellschaftlichen Stellung von Frauen durch Habermas und scheint seiner Vision von « Versöhnung und Freiheit » durch kommunikative Vernunft zuwider zu laufen: « Im Übrigen verfügen die Frauen aus dem historischen Erbe der geschlechtlichen Arbeitsteilung, der sie in der bürgerlichen Familie unterworfen waren, über Kontrasttugenden, über ein zur Männerwelt komplementäres, der einseitig rationalisierten Alltagspraxis entgegen gesetztes Wertregister » (Habermas 1982, 579).
Diese Einschätzung fordert heraus: Was tun Frauen mit diesen « lebensweltlichen » Gegenwerten? Werden sie zum abfedernden Polster des Systems funktionalisiert? Oder stärken sie die Selbstbestimmung von Frauen und somit eine geschlechtergerechte Arbeitsteilung?
Christina Thürmer-Rohrs Grenz- und Entgrenzungs-Dialektik kann hier klärend und weiterführend sein. In ihr höre ich den Klang einer Kritik der Kritischen Theorie. Nicht umsonst bezieht sie sich ja auf spätere Nachfahren wie Alexander Kluge oder Michel Foucault und das zu Zeiten, wo diese Autoren noch kaum in Geschlechterdiskursen herangezogen wurden. Einen großen Dank auch hierfür!
Grenzen und Entgrenzungen sind vor diesem Hintergrund gut geeignet, das Verstehen von Machtstrukturen zu fördern: in einer Welt, in der durch fortschreitendes Denken technisch alles machbar erscheint, die Ohnmächtigkeit jedoch gravierend zunimmt, komplexe gesellschaftliche und politische Probleme durch adäquate Entscheidungs- und Handlungsoptionen erfolgreich anzugehen (nur stichwortartig erinnert sei an Beispiele wie der Krieg in Syrien und besonders um Aleppo; rassistische Gewalt in den USA; weltweite sexistische Gewalt durch Frauenhandel; Anfälligkeit für Terroraktionen Jugendlicher; rechte Gewalt in Deutschland und Europa etc.).
Dauerhafte Selbstzerstörung und der Rückfall von Aufklärung, Kultur und Zivilisation in globale Barbarei als permanenter Prozess – nicht als begrenzte Zeit faschistischer Gewaltherrschaft in Europa – scheint Gegenwart und Zukunft zu konstituieren. Die Herausforderungen sind unendlich – wir können uns nicht nur auf « Rettendes » verlassen, was da « wächst », wo Gefahr droht. Anzufangen ist schon einmal eine Alternative!
P.S.: Noch etwas, das ich nicht einfach übergehen kann, denn es ist immerhin von zweistelligen Prozentzahlen der Berliner Bevölkerung abgesegnet worden: Im Programm der rechtspopulistischen Partei Alternative für Deutschland (AfD) ist zu lesen: « Die Förderung der pseudowissenschaftlichen Geschlechterstudien (Gender Studies) ist in allen Bereichen zu beenden » (zitiert nach Tagesspiegel vom 21.9.2016).
Literatur
Arendt, Hannah (2000): Verstehen und Politik. In: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I. Hrsg. von Ursula Ludz. München/ Zürich: Piper.
Habermas, Jürgen (1982): Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. II. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Irmtraud Morgner (1983): Amanda. Ein Die Vorausdenkerin. Eine gedachte Begegnung